Heinrich von Veldeke: Eneide - Zusammenfassung

entnommen aus:
Bräuer, Rolf: Dichtung des europäischen Mittelalters. Ein Führer durch die erzählende Literatur, S. 348ff.

Ohne seiner Dichtung einen Prolog voranzustellen, erinnert der Dichter an die bekannte Geschichte von der Zerstörung Trojas. Eneas, Sohn der Göttin Venus, habe sich retten können und nach dem Untergang Trojas von den Göttem den Auftrag erhalten, zu fliehen und nach Italien zu gehen. Er verläßt mit seinen Freunden und Untergebenen den Kampfplatz auf den Schiffen der Griechen. Das gesamte Unglück um Troja wird der Rache der Göttin Juno (da Paris ihr einst im Streit der drei Göttinnen nicht den Siegesapfel zuerkannt hatte) zugeschrieben. Sie bewirkt jetzt auch eine siebenjährige Irrfahrt der Helden auf dem Meer (V. 1-212).
Dann endlich erreichen die Schiffe den Hafen Karthagos. Diese mächtige Stadt wurde von Dido, der einst aus Tyrus vertriebenen Königin, erbaut und gibt mit ihren sieben Toren, hundert Türmen und den Palästen Auskunft über Macht und Reichtum der Herrscherin. Dido empfängt die Fremden freundlich und entbrennt - durch den Zauber der Mutter Eneas', Venus - sofort in heftiger Liebe zu dem Ritter. Sie leidet unter ihrem übermächtigen Gefühl, doch Eneas denkt nur an seinen göttlichen Auftrag. Erst als ein zufälliges Unwetter die beiden zusammenführt, erwacht auch in Eneas das Interesse an der schönen Frau. Nach kurzer Zeit der Heimlichkeit gibt sich Dido offiziell als Frau des Helden zu erkennen, ohne Rücksicht auf die Verachtung, die ihr alle anderen Freier nun zeigen (V. 213-1952).
Bald jedoch folgt Eneas, trotz der leidenschaftlichen Bitten, Drohungen und Klagen Didos, seiner Berufung und verläßt mit seiner Flotte das Land. Dido bekennt sich in einem Klagemonolog zur Maßlosigkeit ihrer Liebe, stößt sich das Schwert Eneas' ins Herz und springt gleichzeitig ins Feuer, so daß sie sofort verbrennt. Ihr tragischer Tod wird gewertet als zwangsläufige Folge ihrer Maßlosigkeit (V. 1953-2521).
Eneas, der von all dem nichts ahnt, geht inzwischen auf Anweisung der Götter mit den Kräftigsten seines Heeres weiter zur Sibylle, die ihn mit Zauberkraut und -salbe gegen das Höllenfeuer wappnet und ihn darauf in die Unterwelt führt. Nachdem Cerberus, der Torwächter der Unterwelt überlistet ist, trifft Eneas dort im Reich der Toten auf Ungeborene sowie auf solche, die sich aus Liebeskummer selbst töteten - unter ihnen ist auch Dido, die sich schamhaft abwendet. Im Elysium endlich findet Eneas seinen Vater Anchises, der ihm eine Zukunft mit Freude und Schmerz, doch auch den Weg seiner Nachkommen bis zur Beherrschung der Welt prophezeit. Er solle weiter übers Meer fahren, bis er in die größte Not gerate, und dort bleiben (V. 2522-3728).
Diesem Gebot folgend, fährt Eneas wiederum mit seinem Heer übers Meer. Im Lande des Königs Latinus angelangt, geraten die Helden in die prophezeite Notlage. Eneas beschließt zu bleiben und schwört Latinus ewige Ergebenheit. Doch Latinus will ihm, nach dem Rat der Götter, seine Tochter und später das Reich geben, auch gegen den Willen seiner Frau, die fest auf der Seite des früheren Freiers Turnus steht. So entwickelt sich ein neuer Konflikt, der wenig später, als ein Untergebener Eneas' versehentlich einen zahmen Hirsch tötet, offen ausbricht: Turnus sammelt ein 140000 Mann starkes Heer, darunter auch die Amazonenkönigin Camilla mit ihren fünfhundert Damen, gegen Eneas und belagert dessen Burg Montalbane. Doch ein schneller Sieg ist nicht möglich. Im Gegenteil: Eneas' Späher dringen heimlich in Turnus' Heerlager ein und töten die teils betrunkenen, teils schlafenden Ritter. Euryalus, einer der Kämpfer des Eneas, nimmt voller Habgier beim Rückzug einen wertvollen, glänzenden Helm mit sich; die auffallende, weithin blinkende Beute bringt ihm auf der Flucht die Verfolgung und schließlich den Tod ein (V. 3729-6837).
Auch einen erneuten Angriff auf die Burg Montalbane muß Turnus mit hohen Verlusten bezahlen. Inzwischen ist Eneas mit erheblicher Verstärkung von seiner Werbefahrt zurückgekehrt, und es entwickeln sich neue heftige Kämpfe, in denen Pallas, ein junger Verbündeter Eneas', von Turnus getötet wird. In seiner Heimat wird dem Jüngling ein kostbares Grabmal gesetzt. Hier zeigt sich erstmals ein deutlich politischer Aspekt der Dichtung: Kaiser Friedrich habe - so führt der Dichter aus - das Grab des heldenhaften Pallas mit dem ewigen Licht wiedergefunden, bei der Öffnung sei das Licht erloschen - dies als Symbol der historischen Bedeutung des Stauferkaisers (V. 6838-8406).
Nachdem auch Camilla im Kampf getötet wurde, vereinbart man einen vierzigtägigen Waffenstillstand und schließlich einen Zweikampf der beiden Heerführer. Unterdessen ist Lavinia, die Tochter des Latinus, Eneas' wegen der Liebeskrankheit verfallen; auch er wird bald darauf von den Pfeilen Amors, des Abgesandten der Venus, getroffen und kann nun die einst verurteilte Handlungsweise der Dido verstehen. Endlich findet der Zweikampf statt. Eneas, von den Göttern mit Waffen und Rüstung versehen, kann den Sieg erringen. Er will Turnus zunächst verschonen; als er jedoch an dessen Hand den Fing des getöteten Pallas erblickt, schlägt er ihm wegen seiner Beutegier zornig den Kopf ab (V. 8409-12634).
Vierzehn Tage später werden Hochzeit und Krönung Lavinias und Eneas' prachtvoll gefeiert; der Dichter vergleicht das Fest mit dem Mainzer:' Hoffest Kaiser Friedrichs. Ein glückliches Leben des Herrscherpaares schließt sich an. Nach dem Tode Latinus' beherrscht Eneas alle italienischen Gebiete. Am Schluß seiner Dichtung führt Heinrich die genealogische Folge weiter bis zu Romulus und Remus, den sagenhaften Gründern Roms, sowie den berühmten römischen Herrschern Julius Cäsar und Augustus. Während der Regierungszeit des letzteren sei der Gottessohn geboren worden (V. 12635-13428).
Im Epilog ist die abenteuerliche Entstehungsgeschichte des Buches verzeichnet: Heinrich von Veldeke habe es aus dem Französischen übersetzts, das unvollendete Manuskript jedoch der Gräfin von Cleve anläßlich ihrer Hochzeit geliehen. Graf Heinrich habe es dann einer ihrer Damen enwendet und in seine Heimat Thüringen gesandt. Neun Jahre später habe der Dichter das Buch vom Pfalzgrafen von Sachsen zurückbekommen mit dem Auftrag, es zu vollenden. Das Manuskript sei genau nach der französischen Quelle verfaßt worden (V. 13429-13528).